Ingo Nöhr zum 1. August 2022: Alles Schlechte hat auch sein Gutes – Das Beste aus zehn Jahren

» Artikel veröffentlicht am 01.08.22, von

Was macht der Mensch, wenn er heutzutage permanent von schlechten Nachrichten überschüttet wird? Er lehnt sich zurück und erinnert sich an die gute alte Zeit, als alles noch viel besser war. Seit nunmehr zehn Jahren wurden die Stammtischgespräche von Ingo und Jupp von einem fleißigen Chronisten lückenlos aufgezeichnet. Mehrere tausend Seiten Protokolle sind da zusammen­gekommen und es lohnt sich, mal in einem kleinen Rückblick ein paar Höhepunkte auszugraben.

Guten Morgen Jupp. Heute haben wir ein historisches Treffen. Mit der 120. Ausgabe unserer Tischreden können wir ein feines Jubiläum feiern.

  • Stimmt genau, Ingo: 120 Treffen, die es meistens in sich hatten. Ein abgehobener Ingenieur trifft auf einen pragmatischen Techniker, Pessimist gegen Optimisten, wobei ich mich weiterhin zu den Realisten zählen würde. Du erwartest dagegen den Aufbruch nach dem Kollaps unserer Gesellschaft, den sagenhaften Aufstieg des Phönix aus der Asche.

Nun, mein lieber Jupp, eigentlich bin ich nicht so weltfremd wie du mich immer darstellst, sondern ich betrachte die Läufe der Geschichte in einem längeren Kontext. Ich schaue sozusagen über den Tellerrand, während du in den Krisen dauernd gefühlsmäßig kurz vor dem Ertrinken stehst. Du siehst, trotz der befürchteten Katastrophen haben wir schon zehn Jahre gut überlebt.

  • Vieles ist ja auch beständig, nimm mal die Betreiberverordnung für Medizinprodukte. Vor genau zehn Jahren hast du mich in meiner Garage besucht, als ich gerade als erfahrener Praktiker den Betreibervorschriften des Medizinproduktegesetzes auf den Zahn fühlte.

Ich erinnere mich noch gut daran: du hast dein Auto als Medizinprodukt eingruppiert, die Risikoklasse bestimmt, ein Medizinproduktebuch mit Sicherheitstechnischen Kontrollen angelegt und wolltest dem BfArM jedes Beinahevorkommnis und jede Funktionsstörung gemäß der Sicherheitsplanverordnung mitteilen. Ich war damals von deiner konsequenten Ernsthaftigkeit schwer beeindruckt.

  • Dann bin ich aber am Nachweis der qualifizierten Instandhaltung und einem validierten Reinigungsverfahren gescheitert. Mein Schwager musste seinen Pizza-Expressdienst wegen der sonst erforderlichen Änderung der Zweckbestimmung zum Lastauto anderweitig zustellen.

Es wurde richtig lustig. Damals haben wir mit der Anwendung des MPG im Alltagsleben für viel Unruhe gesorgt. Dann kam dir die Idee mit der ISO 9001 für’s Spaghetti kochen und das Risikomanagement für die Weihnachtsbeleuchtung.

  • Schon damals haben wir über das Krankenhaus der Zukunft schwadroniert: die neuen Technologien im Wettstreit mit den esoterischen Heilverfahren. Daraus entstanden die drei Szenerien des Gesundheitswesens mit seinen typischen Vertretern: Dr. McCoy für die Hochtechnologie, Dr. Feelgood mit seiner Schmusemedizin und Dr. Eisenbarth mit seiner Minimalversorgung. Die Theateraufführung auf der MEDICA 2013 war ein Publikumsrenner.

Wir hatten auch kommerziell lukrative Vorschläge erarbeitet: der ambulante Schönheitschirurg im Supermarkt, Brustimplantate beim Shopping, die mobile Apotheke im Kioskwagen der Bahn, ganzheitliche Placebo-Medizin mit Globuli und fünfdimensionalen Kosmoskräften.

  • Du hast die geniale Idee eines Amtes für Nichtzuständigkeiten gehabt, etwas, was heutzutage dringender den je erforderlich ist. Immer, wenn sich für einen Schlamassel keiner zuständig oder verantwortlich fühlt, tritt automatisch die zentrale Behörde für Nichtzuständigkeiten in Aktion. Leider konnten wir mit dieser revolutionären Lösung auch nach zehn Jahren nicht in die politische Ebene vordringen.

Aber dafür haben wir uns mehrmals an der Brüsseler Bürokratie abgearbeitet. Sogar die Fußball-WM 2014 drohte von der EU-Kommission regulativ überarbeitet werden. In dieser Zeit hatten wir besonders viele kreative Ideen für die Digitalisierung des Fußballs. Innovation war angesagt: mehr Humor durch Slapstick-Einlagen vom gelangweilten Torwart, medizinische Sensoren, Google Glasses und Sprechverbindungen für die Spieler, Webcams im Fußball und ein KI-gesteuertes FUMS, sprich Fußball-Management-System.

  • Überhaupt: mehr Manager für jeden Kleinkram wie Entscheidungsmanager, Torschussmanager, Ballaufpumpmanager, Rasenpflegemanager – da können die von uns Krankenhausleuten eine Menge lernen. Ein Bachelor-Studium an einer Fußball-Akademie mit Grundlagen in der Theaterwissenschaft und manipulativer Psychologie wäre längst angesagt, um die Fouls publikumsattraktiver zu gestalten.

Mit der Digitalisierung waren wir schon weit in der Zukunft angekommen, denn wir haben einfach mal bei der Industrie 4.0 reingeschaut. Jedes Medizinprodukt bekommt einen kleinen Chip, gekoppelt an einem lernenden System. Es schaut im ständigen Dialog mit seinem Umfeld vor Anwendung nach, ob es systemkompatibel, mit den richtigen Zubehörteilen ausgestattet, rechtzeitig inspiziert und gewartet worden ist und von einem qualifizierten Anwender bedient wird. Und die Pharmaindustrie könnte das Prinzip auf ihre Pillen übertragen: der Chip in jeder Pille überwacht die individuelle Medikation mit seinen Nachbarpillen auf dem Tablett, kontrolliert etwaige Unverträglichkeiten und verpetzt den Patienten, wenn er sie nicht rechtzeitig einnimmt.

  • 2015 beglückte uns der Gesundheitsminister mit innovativen Gesetzen zur immerwährenden Reform unseres Krankensystems zum „bedarfsgerechten Umbau der Krankenversorgung“. Nach jahrzehntelangen Kostendeckungsreformen verzeichnen wir steigende Gesundheitskosten mit 350 Mrd. Euro und gehören damit zum Club der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Das gewaltige Bürokratiemonster mit 134 gesetzlichen Krankenkassen, 16 Landeskrankenhausgesellschaften, 12 Spitzenverbänden der Krankenhausträger, 17 Kassenärztlichen Vereinigungen und Dutzenden von Kammern muss schließlich finanziert werden. Aber dafür gab es ein kleines Licht am Horizont der Innovationen: die NUBs – Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als schnelle Zulassungsmöglichkeit und Entgeltsystem für innovative Lösungen.

Und die Digitalisierung schritt unerbittlich voran, leider unschön durch Hackerattacken gestört. Das autonome Auto drehte seine Runden, allerdings nur in amerikanischen Großstädten, Roboter unterstützten die Arbeit der Pflegekräfte, hauptsächlich in Japan. KI-Doc IBM Watson hilft den Ärzten bei der Diagnose seltener Krankheiten. Digitale Konzerne brachen reihenweise Weltrekorde: AirBnB als weltgrößter Zimmervermittler, Amazon als weltgrößtes Warenhaus, Wikipedia als Weltenzyklopädie. Arbeit 4.0 im Home-Office als Clickworker in Croudworking-Plattformen – nur unsere Kliniken sind in der Mehrzahl noch in Stufe 2.0  hängen geblieben.

  • Nicht verwunderlich bei unseren Politikern. Da fehlt wohl noch ein Einlauf mit künstlicher Intelligenz. Originalton von Merkel in Berlin 2013 beim Obama-Besuch: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Der zuständige Minister Dobrindt hatte 2016 für den Breitbandausbau des Internets 600 Mio. Euro zur Verfügung. Ausgegeben hat er 5 Millionen. Der IT-Strategieberater Sascha Lobo hat danach Deutschland vom digitalen Entwicklungsland zu einem „Digitally Failed State“ herabgestuft.

Ja, unsere Regierungen haben uns in den letzten zehn Jahren immer wieder zum Staunen gebracht: Verlorene Wahlen, Brexit, Donald Trump, das Tesla-Auto, DSGVO, Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleverstromung – wir gewöhnten uns zunehmend an die disruptive Politik.

  • Ja, aber nicht alle Volksschichten. Im November 2016 haben wir schon über die erwachende Macht der Verlierer diskutiert: Donald Trump setzte auf blinde Destruktionspolitik und negierte den Klimawandel. Ungarn und Polen fühlten sich bei der Flüchtlingspolitik der EU nicht ernstgenommen und verweigerten die Gefolgschaft. Pegida und AFD wurden zunehmend lautstärker. 1,5 Mio. Nichtwähler kreuzten die AFD an, eine Million bisheriger CDU-Wähler, eine halbe Million von der SPD und 420 Tausend von den Linken wechselten zur AFD, die jetzt mit 94 Mitgliedern und gleich als drittgrößte Fraktion erstmals in den Bundestag einzog. Der gilt mit 709 Mitgliedern statt reguzlär 598 als das zweitgrößte Parlament weltweit.

Jupp, du hast dann im Dezember die rebellische Frage gestellt: Wozu brauchen wir eigentlich noch eine Regierung? Wir planen die Gesellschaft 4.0, die aber immer noch mit der Verwaltung 1.0 von Kaiser Wilhelms Zeiten klarkommen muss. Da hatten gerade Hunderttausende von ehrenamtlichen Helfern die erste Flüchtlingswelle bewältigt. Wie die Flut im Ahrtal kürzlich zeigte, könnten wir bei den kommenden Klimakatastrophen wieder auf uns gestellt sein, die bisherige Hilflosigkeit unserer Schulbehörden und Gesundheitsämter in der Corona-Pandemie spricht da eine deutliche Sprache.

  • Ingo, Social Media soll doch die Lösung bringen. Facebook hatte gerade 16 Milliarden Dollar Gewinn gemacht. Cambridge Analytics hat sich auf etwas krummen Wegen 50 Millionen Facebook-Profile besorgt und damit wohl sehr wirksam Wahlpropaganda für Donald Trump und den Brexit gemacht. Jetzt sehen viele Politiker die Demokratie in Gefahr.

Jupp, schau doch mal auf die Kräfteverhältnisse. Ohne eine randvoll gefüllte Wahlkampfkasse hat kein Bewerber eine Chance auf den Präsidentensitz.  Acht Männer besitzen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. In Deutschland verteilt sich der halbe Reichtum des Volkes auf 36 Milliardäre. Leute, denkt nach! Es macht wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein. Mark Zuckerberg, Bill Gates und Warren Buffet spendeten schon mal den größten Teil ihres Reichtums. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach meinte damals: „Menschen, die nach immer größerem Reichtum jagen, ohne sich jemals Zeit zu gönnen, ihn zu genießen, sind wie Hungrige, die immerfort kochen, sich aber nie zu Tische setzen.“

  • Oh, aber auch die Reichen mussten während der schweren Corona-Pandemie etwas bluten. Bis auf wenige Ausnahmen: Amazon steigerte 2021 seinen Nettogewinn um 56%. Und natürlich die Pharmaindustrie und die Medizintechnikbranche. Es brachen ab 2020 wirklich disruptive Zeiten an. Covid-19 krempelte die Welt um, globale Lieferketten brachen zusammen, das Schönwetter-Beamtentum in Deutschland erlebte seinen Untergang, Klimakatastrophen nehmen zu, Donald Trump versuchte mit einem Staatsstreich seine verlorene Wahl zu retten. Jetzt der Angriffskrieg in der Ukraine, steigende Inflation, Energiekrise, neue Flüchtlingswellen … ich höre deinen Phönix-Vogel schon in der Asche rascheln. Kommt jetzt wirklich die Zeitenwende, Ingo?

Ja, Jupp. Ich glaube, die gemütlichen Zeiten des Aussitzens, des Ignorierens und des Luxus auf Kosten anderer sind endgültig vorbei. Wir müssen jetzt dringend über neue Werte nachdenken, wie wir die Zeiten des ewigen Wachstums und des Konsumrausches hinter uns lassen. Wir verschwenden eine unglaubliche Menge an Lebensmitteln, Energie, Wasser und Land. Gerade am 28. Juli hatten wir schon die gesamten Ressourcen der Erde für das Jahr 2022 aufgebraucht. Seitdem leben wir auf Pump. Wir sollten endlich Lao-Tse beherzigen: „Ein reicher Mensch ist einer, der weiß, dass er genug hat.“

  • Ingo, ich glaube, ich verstehe jetzt langsam deine Philosophie. Du siehst in diesem ganzen Chaos des Schlechten den Keim des Guten für einen Neuanfang. Da kann ich nur hoffen, dass sich dein Supervogel noch rechtzeitig aus diesem Trümmerhaufen befreien kann.

Und darauf warten wir besser bei einem nachhaltigen Getränk. Herr Wirt, zwei Bier bitte, bevor die Welt ganz untergeht. Prost auf unseren Phönix.

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Luxus und allzu große Verfeinerung in den Staaten sind ein sicheres Zeichen ihres Unterganges, weil die einzelnen sich selbst nur so weit fördern konnten, wenn sie das allgemeine Wohl aus den Augen verloren. (François VI. Herzog de La Rochefoucauld, Schriftsteller und Moralist, 1613-1680)

Bisher musste der Mensch mit dem Gedanken an seinen sicheren persönlichen Tod leben. Jetzt hat er sich auch noch mit dem Gedanken an den möglichen Untergang der ganzen Menschheit abzufinden. (Arthur Koestler, Schriftsteller, 1905 – 1983)

Lasst uns wenigstens den Weltuntergang verhindern. Es ist fünf vor zwölf und wir haben nicht mehr viel Zeit.  (Barack Obama, ehemaliger US-Präsident, am 16.Juli 2011)

 

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